In den ersten 24 Stunden nach der Bundestagswahl sind allein online 1400 Menschen in die SPD eingetreten. Laura Tirier ist eine von ihnen.

Seit fast einem Jahr schon spiele ich mit dem Gedanken in die SPD oder bei den Jusos einzutreten. Der ausschlaggebende Grund, warum ich das bisher nicht getan habe war – um das so selbstkritisch zu sagen – Faulheit. An den Abenden, an denen ein Treffen für die Neumitglieder der Jusos stattfand, blieb ich lieber mit Netflix auf meiner Couch. Die Politik macht schon jemand anders für mich, dachte ich. Kein Grund, dass ich mich anstrengen muss. Doch dann kam die Bundestagswahl.

Links – trotz konservativer Familie

Seit ich 14 Jahre alt bin interessiere ich mich für Politik, seit zwei Jahren studiere ich Politikwissenschaft und Geschichte. Ich würde mich selber dem linken Lager zuordnen. Das ist übrigens kein Produkt familiärer Indoktrinierung, ganz im Gegenteil: Ich komme aus einem eher konservativen – böse Zungen würden sagen spießigen – Umfeld, viele meiner näheren Verwandten wählen CDU oder FDP.

Ich bin sehr privilegiert und behütet aufgewachsen, gefehlt hat es mir nie an etwas. Wir konnten in den Urlaub fahren und essen gehen, ohne uns um die nächste Stromrechnung zu sorgen. Ich bekam Nachhilfe, Nachmittagsbetreuung und Reitunterricht, meine Schultoiletten waren sauber, meine Schule gut ausgestattet und heute muss ich kein BAföG beziehen.

Ignoranz oder Veränderung?

Wenn ich wollte, könnte ich sagen, ich brauche keine „soziale Gerechtigkeit“. Ich könnte so ignorant sein wie es leider manche meiner Bekannten sind und sagen: „Warum sollte ich mich um Bildungspolitik kümmern, wenn ich nicht mehr in die Schule gehe?“ Ich müsste mich nicht um höheres Kindergeld sorgen, um flächendeckende Kitabetreuung, um Lehrermangel, nicht um den Zustand der Leiharbeit oder um befristete Arbeitsverträge.

Ich könnte mich entspannt zurücklehnen und einen auf Frau Merkel machen, die sich gegen Veränderungen und Diskussionen wehrt. Nach dem Motto „Ist doch noch alles gut, muss man nichts dran ändern“. Obwohl wir auf flächendeckende Altersarmut zusteuern und immer mehr Kinder in Deutschland unter der Armutsgrenze leben. Ich will kein „Weiter so“, keinen Stillstand. Ich möchte Mitglied in einer Partei sein, die nicht nur um Missstände weiß, sondern sie auch angeht. Meiner Meinung nach ist das die SPD.

Politik ist nicht etwas, das nur für den einzelnen funktionieren soll. Ich kann und möchte nicht nur danach wählen und handeln, was für mich am besten wäre, sondern was für die große Mehrheit am besten ist. Nur weil in meiner Schule kein Wasser von der Decke getropft ist, kann es mir nicht egal sein, dass sowas in anderen Schulen der Fall ist.

Die SPD will etwas verändern. Mit Idealen, aber nicht ohne wirtschaftspolitischen Realismus. Und auch wenn die großen Zeitungen im Wahlkampf die Inhalte und Finanzierungspläne der SPD gerne unter den Teppich fallen ließen – verschwunden sind sie dadurch nicht.

Kein Wackelpudding im Teflonanzug

Man kann von Martin Schulz’ Auftritt in der Elefantenrunde am Wahlabend halten, was man will. Meiner Meinung nach hatte er recht. Ja, Angela Merkels Demobilisierung der politischen Landschaft ist skandalös und macht es nicht verwunderlich, dass sich Wähler entpolitisieren oder radikalisieren. Ich fand es sehr erfrischend, mal wieder scharfe Worte in einer politischen Diskussion zu hören.

Und lieber habe ich einen Parteivorsitzenden, der mit dem streitbaren Herbert Wehner verglichen wird, als einen Wackelpudding im Teflonanzug.

Direkt nach der Elefantenrunde habe ich meinen Onlineantrag für eine Parteimitgliedschaftabgeschickt.

Gegen die AfD – gegen menschenverachtendes Denken

Ich bin mit dem Grundsatz erzogen worden, dass jeder Mensch gleich und gleichwertig ist. Nur unsere Handlungen sollten darüber entscheiden, was andere von uns denken. Das ist meine Überzeugung und meine Lebensweise. Ich konnte mir nie vorstellen, wie man an diesem Punkt anders denken kann.

Und jetzt sitzen im Bundestag Menschen, die genau hier eine grundlegend andere Einstellung haben. Personen, die sagen man solle „Mischvölker“ vermeiden und solche, die ohne mit der Wimper zu zucken sagen, man wolle wieder auf Frauen und Kinder schießen lassen.

Weil sich die Geschichte nicht wiederholen darf

Rassismus war lange Zeit eine Randerscheinung in der deutschen Politik. Durch die AfD hat er zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder Einzug in den Bundestag gehalten.

Wer in ein Geschichtsbuch geschaut, Zeitzeugenberichte gehört oder Gedenkstätten besucht hat, weiß um die Grausamkeit des Rassismus. Und ich verstehe nicht, wie manche Menschen sagen können, sie seien abgestumpft, was dieses Thema angeht. Man kann mich überemotional nennen, aber wenn ich höre, dass ein Mensch den Holocaust als „Mythos“ bezeichnet, würde ich am liebsten schreien vor Wut.

Wenn ich an die Schrecken der NS-Zeit denke, möchte ich daran glauben, dass ich das nicht mitgemacht hätte. Dass ich geholfen, anstatt verraten hätte, dass ich ein guter Mensch – oder ein Gutmensch? – geblieben wäre. Heute, wo unsere Demokratie wieder einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt ist, kann ich das beweisen – der Eintritt in die SPD ist für mich der erste Schritt.


aus dem:   vorwärts | Zeitung der deutschen Sozialdemokratie seit 1876